^.^^r/r^^^/^^^^wr^f^m^r/r^^^
>v
GOETHES
S/EMTUCHE WERKE BANDXm
JoO
;ji!)rmauy
GOETHES
AUFSÄTZE
ZURKULTÜR%THEXrER
UNDUTERMUR
GESCHICHTE
MAXIMEN REFLEXIONEN
BANDH
LEIPZIG IM INSEEWERLAG
ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER
EINLADUNGSSCHRIFT VON DR. KANNEGIESSER,
REKTOR DES GYMNASIUMS ZU PRENZLAU
DEZEMBER 1820
[Über Kunst und Altertum. Dritten Bandes zweites Heft. 1821.]
DIESES kleine Heft, vom Verfasser freundlich zu- gesandt, gab mir die angenehme Veranlassung, die sonderbaren Bilder früherer Jahre aus den Lethei*- schen Fluten wieder hervorzurufen; wobei ich zu bewim- dern hatte, daß mein sinniger Ausleger, dem die wunder- lichen Besonderheiten jenes Winterzuges keineswegs be- kannt sein konnten, dennoch, durch wenige Andeutungen geleitet, die Eigenheiten des Verhältnisses, die Wesenheit des Zustandes und den Sinn des obwaltenden Gefühls durchdringlich erkannt und ausgesprochen. Nachdem ich mir nun jene für mich sehr bedeutenden Tage wieder zurückgerufen, so kann ich nicht unterlassen, einiges zu erwidern und, wie es bei mir aufgeregt worden, niederzuschreiben.
Schon früher hatte ich die Ehre erlebt, daß geistreich nachspürende Männer meine Gedichte zu entwickeln sich bestrebten; ich nenne Moritz und Delbrück^ welche beide in das Angedeutete, Verschwiegene, Geheimnisvolle der- gestalt eindrangen, daß sie mich selbst in Verwunderung setzten; wie ich denn von letztgenanntem nur anführen will, daß er in den Gedichten an Lida größere Zartheit als in allen übrigen ausgespürt.
Gleiches Wohlwollen erzeigt mir nun Herr Dr. Kanne- gießer, wofür ich ihm einen öfifentlich ausgesprochenen Dank vertraulich erwidere und nach seinem Wunsch über das genannte Gedicht auch meinerseits einige Aufklärung versuche. Was von meinen Arbeiten durchaus und so auch von den
8 ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER
kleineren Gedichten gilt, ist, daß sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im un- mittelbaren Anschauen irgendeines Gegenstandes verfaßt worden, deshalb sie sich nicht gleichen, darin jedoch übereinkommen, daß bei besondern äußeren, oft ge- wöhnlichen Umständen ein Allgemeines, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte.
Weil nun aber demjenigen, der eine Erklänmg meiner Gedichte unternimmt, jene eigentlichen, im Gedicht nur angedeuteten Anlässe nicht bekannt sein können, so wird er den innem, hohem, faßlichem Sinn vorwalten lassen; ich habe auch hiezu, um die Poesie nicht zur Prose herabzu- ziehen, wenn mir dergleichen zur Kenntnis gekommen, gewöhnlich geschwiegen.
Das Gedicht aber, welches der gegenwärtige Erklärer ge- wählt, ''Die Harzreise", ist sehr schwer zu entwickeln, weil es sich auf die allerbesondersten Umstände bezieht; und doch hat er sehr viel geleistet, indem er das Angedeutete genugsam herausahndete, wodurch ich mich stellenweise in Verwunderung gesetzt und bewogen fühle, folgendes zu näherer Aufklärung zu eröffnen.
In meinen biographischen Versuchen würde jene Epoche eine bedeutende Stelle einnehmen. Die Reise ward Ende Novembers 1776 gewagt. Ganz allein, zu Pferde, im drohenden Schnee, unternahm der Dichter ein Abenteuer, das man bizarr nennen könnte, von welchem jedoch die Motive im Gedicht selbst leise angedeutet sind.
Dem Geier gleich.
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.
Der Reisende verläßt am frühsten Wintermorgen seinen im Augenblick behaglich-gastfreundlichen thüringischen Wohnsitz, wo ihn später eine zweite Vaterstadt be- glückte, er reitet nordwärts bergauf; ein schwerer schnee- drohender Himmel wälzt sich ihm entgegen.
ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER 9
Denn ein Gott hat Jedem seine Bahn Vorgezeichnet, Die der Glückliche Rasch zum freudigen Ziele rennt.
Begonnene Ausführung eines bedenklichen und beschwer- lichen Unternehmens stählt den Mut und erheitert den Geist. Der Dichter gedenkt seines bisherigen Lebens- ganges, den er glücklich nennen, dem er den schönsten Erfolg versprechen darf.
Wem aber Unglück Das Herz zusammenzog, Er sträubt vergebens Sich gegen die Schranken Des ehernen Fadens, Den die doch bittre Schere Nur einmal löst.
Aber sogleich gedenkt er eines Unglücklichen, Mißmutigen, um dessentwillen er eigentlich die Fahrt unternommen. Als der Dichter den ' 'Werther' ' geschrieben, um sich wenig- stens persönlich von der damals herrschenden Empfind- samkeitskrankheit zu befreien, mußte er die große Un- bequemlichkeit erleben, daß man ihn gerade diesen Ge- sinnungen günstig hielt. Er mußte manchen schriftlichen Andrang erdulden, worunter ihm besonders ein junger Mann auffiel, welcher schreibselig-beredt und dabei so ernstlich durchdrungen von Mißbehagen und selbstischer Qual sich zeigte, daß es unmöglich war, nur irgendeine Persönlichkeit zu denken, wozu diese Seel- Enthüllungen passen möchten. Alle seine wiederholten zudringlichen Äußerungen waren anziehend und abstoßend zugleich, daß endlich, bei einer immer aufgeforderten und wieder ge- dämpften Teilnahme, die Neugier rege ward, welchen Körper sich ein so wunderlicher Geist gebildet habe? Ich wollte den Jüngling sehen, aber unerkannt, und des- halb hatte ich mich eigentlich auf den Weg begeben.
lo ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER
In Dickichtschaüer
Drängt sich das rauhe Wild.
Der Reisende gelangt auf die nächsten Bergeshöhen; immer winterhafter zeigt sich die Landschaft, einsam und öde starrt alles imiher, nur flüchtiges Wild deutet auf kümmerlichen Zustand. Nun blickt er über gefrorne Teiche, Seen, auch eine Stadt kommt ihm zu Gesicht.
Und mit den Sperlingen Haben längst die Reichen In ihre Sümpfe sich gesenkt.
Wer seine Bequemlichkeiten aufopfert, verachtet gern die- jenigen, die sich darin behagen. Jäger, Soldaten, müh- sam Reisende bedürfen gutes Mutes, der sich leicht zu Übermut steigert. Unser Reisende hat alle Bequemhch- keiten zurückgelassen und verachtet die Städter, deren Zustand er gleichnisweise schmählich herabsetzt. Wahrscheinlich ist ein wundersamer Druckfehler daher entstanden, daß Setzer oder Korrektor die Reichen^ die ihm keinen Sinn zugeben schienen, in i?(?2>^<?r verwandelte, welche doch auf einiges Verhältnis zu den Rohrsperlingen hindeuten möchten. In der vorletzten Ausgabe stehen jene, diese in der letzten.
Leicht ists folgen dem Wagen, Den Fortuna führt, Wie der gemächliche Troß Auf gebesserten Wegen Hinter des Fürsten Einzug.
Der Dichter kehrt wieder zu seiner eigenen günstigen Lebensepoche zurück, ohne sich irgendein Verdienst anzumaßen, ja er spricht von den augenblicklichen Glücks- vorteilen beinahe mit Geringschätzung.
Aber abseits, wer ists?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,
Hinter ihm schlagen
Die Sträuche zusammen,
ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER 1 1
Das Gras steht wieder auf, Die Öde verschlingt ihn.
Das Bild des einsamen, menschen- und lebensfeindHchen Jünglings kommt ihm wieder in den Sinn, er malt sichs aus.
Aber wer heilet die Schmerzen
Des, dem Balsam zu Gift ward?
Der sich Menschenhaß
Aus der Fülle der Liebe trank!
Erst verachtet, nun ein Verächter,
Zehrt er heimlich auf
Seinen eignen Wert
In ungnügender Selbstsucht.
Er fährt fort, ihn zu beklagen.
Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton Seinem Ohr vernehmlich, So erquicke sein Herz! Öffne den umwölkten Blick Über die tausend Quellen Neben dem Durstenden In der Wüste.
Seine herzliche Teilnahme ergießt sich im Gebet. Die Auslegung dieser Strophen ist meinem freundhchen Kom- mentator besonders gelungen; er hat das Herzliche der- selben innigst gefühlt und entwickelt.
Der du der Freuden viel schaffst, Jedem ein überfließend Maß, Segne die Brüder der Jagd Auf der Fährte des Wilds Mit jugendlichem Übermut Fröhlicher Mordsucht, Späte Rächer des Unbills, Dem schon Jahre vergeblich Wehrt mit Knitteln der Bauer.
Der Dichter wendet seine Gedanken zu Leben und Tat hin, erinnert sich seiner engverbundenen Freunde, welche
12 ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER
gerade in dieser Jahrszeit und Witterung eine bedeutende Jagd unternehmen, um das in gewisser Gegend sich mehrende Schwarzwildbret zu bekämpfen. Eben diese Lustpartie war es, welche jene vertraute Gesellschaft aus der Stadt zog, dem Dichter Raum und Gelegenheit zu seiner Wanderung darbietend. Er trennte sich mit dem Versprechen, bald wieder unter ihnen zu sein.
Aber den Einsamen hüll In deine Goldwolken, Umgib mit Wintergrün, Bis die Rose heranreift. Die feuchten Haare, O Liebe, deines Dichters.
Nun aber kehrt er zu sich selbst zurück, betrachtet seinen bedenklichen Zustand und ruft der Liebe, ihm zur Seite zu bleiben.
Hier ist der Ort, zu bemerken, daß man sich bei Aus- legung von Dichtern immer zwischen dem Wirklichen und Ideellen zu halten habe. In der siebenten Strophe heißt Liebe das unbefriedigte, dem Menschen zwar inwohnende, aber von außen zurückgewiesene Bedürfnis; in der achten Strophe ist unter Vater der Liebe das Wesen gemeint, welchem alle übrigen die wechselseitige Neigung zu dan- ken haben; hier in der zehnten ist unter Liebe das edelste Bedürfnis geistiger, vielleicht auch körperlicher Vereini- gung gedacht, welches die einzelnen in Bewegung setzt und auf die schönste Weise in Freundschaft, Gattentreue, Kinderpietät und außerdem noch auf hundert zarte Wei- sen befriedigt und lebendig erhält.
Mit der dämmernden Fackel
Leuchtest du ihm
Durch die Furten bei Nacht,
Über grundlose Wege
Auf öden Gefilden;
Mit dem tausendfarbigen Morgen
Lachst du ins Herz ihm;
Mit dem beizenden Sturm
Trägst du ihn hoch empor;
ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER 13
Winterströme stürzen vom Felsen In seine Psalmen.
Er schildert einzelne Beschwerlichkeiten des Augenblicks, die ihn peinlich anfechten, aber in Gedanken an die ent- fernten Geliebten frohmütig überstanden werden.
Und Altar des lieblichsten Danks Wird ihm des gefürchteten Gipfels Schneebehangner Scheitel, Den mit Geisterreigen Kränzten ahnende Völker.
Ein wichtiger, völlig ideell, ja phantastisch erscheinender Punkt, über dessen Realität der Dichter schon manchen Zweifel erleben mußte, wovon aber ein sehr erfreuliches Dokument noch in seinen Händen ist. Ich stand wirklich am siebenten Dezember in der Mittags- stunde, grenzenlosen Schnee überschauend, auf dem Gipfel des Brockens zwischen jenen ahnimgsvollen Granitklippen, über mir den vollkommen klarsten Himmel, von welchem herab die Sonne gewaltsam brannte, so daß in der Wolle des Überrocks der bekannte branstige Geruch erregt ward. Unter mir sah ich ein unbewegliches Wogenmeer nach allen Seiten die Gegend überdecken und nur durch höhere und tiefere Lage der Wolkenschichten die darunter be- findlichen Berge und Täler andeuten. Die herrliche Erscheinimg farbiger Schatten bei unter- gehender Sonne ist in meinem Entwurf der Farbenlehre im 75. §. umständlich beschrieben.
Du stehst mit unerforschtem Busen
Geheimnisvoll offenbar
Über der erstaunten Welt,
Und schaust aus Wolken
Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,
Die du aus den Adern deiner Brüder
Neben dir wässerst.
Hier ist leise auf den Bergbau gedeutet. Der unerforschte Busen des Hauptgipfels wird den Adern seiner Brüder entgegengesetzt. Die Metalladern sind gemeint, aus wel-
14 ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER
chen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit gewässert werden.
Eine vorläufige Anschauung dieser wichtigen Geschäfts- tätigkeit sich zu verschafifen, welches ihm auch gelang, veranlaßte zum Teil das seltsame Unternehmen, wovon das gegenwärtige Gedicht allerdings mysteriöse, schwer zu deutende Spuren enthält.
Das Thema desselben wäre also wohl folgendermaßen auszusprechen: der Dichter in doppelter Absicht, ein un- mittelbares Anschauen des Bergbaues zu gewinnen und einen jungen, äußerst hypochondrischen Selbstquäler zu besuchen und aufzurichten, bedient sich der Gelegenheit, daß engverbundene Freimde ziu: Winterjagdlust ausziehen, um sich von ihnen auf kurze Zeit zu trennen. So wie sie die rauhe Witterung nicht achten, unternimmt er nach seiner Seite hin jenen einsamen wunderlichen Ritt. Es glückt ihm nicht nur, seine Wünsche erfüllt zu sehen, sondern auch durch eine ganz eigene Reihe von Anlässen, Wanderungen und Zufälligkeiten auf den be- schneiten Brockengipfel zu gelangen. Von dem, was ihm während dieser Zeit durch den Sinn gezogen, schreibt er zuletzt kurz, fragmentarisch, geheimnisvoll, im Sinn und Ton des ganzen Unternehmens kaum geregelte rhyth- mische Zeilen.
Durch einen ziemlichen Umweg schließt er sich wieder an die Brüder der Jagd, teilt ihre tagtäglichen heroischen Freuden, um nachts in Gegenwart einer prasselnden Ka- minflamme sie durch Erzählung seiner wunderlichen Aben- teuer zu ergötzen und zu rühren.
Mein werter Kommentator wird hieraus mit eignem Ver- gnügen ersehen, wie er so vollkommen zum Verständnis des Gedichtes gelangt sei, als es ohne die Kenntnis der besonders vorwaltenden Umstände möglich gewesen; er findet mich an keiner Stelle mit ihm in Widerstreit, tmd wenn das Reelle hie und da das Ideelle einigermaßen zu beschränken scheint, so wird doch dieses wieder erfreu- lich gehoben und ins rechte Licht gestellt, weil es auf
ÜBER GOETHES HARZREISE IM WINTER 15
einer wirklichen, doch würdigen Base emporgehoben wor- den. Gibt man nun aber dem Erklärer zu, daß er nicht gerade beschränkt sein soll, alles, was er vorträgt, aus dem Gedicht zu entwickeln, sondern daß er uns Freude macht, wenn er manches verwandte Gute und Schöne an dem Gedicht entwickelt, so darf man diese kleine gehaltreiche Arbeit durchaus billigen und mit Dank erkennen.
GRAF CARMAGNOLA NOCH EINMAL
[über Kunst und Altertum. Dritten Bandes zweites Heft. 1821.]
WIR kommen gern zu unserm Freund zurück und hoffen mit Begünstigung unserer Leser; denn man kann bei einem Gedicht ebensoviel sagen als bei zehnen und noch dazu in besserer Folge. Wie gut und heilsam unsere erste Rezension auf den Autor gewirkt, hat er uns selbst eröffnet, und es gereicht zu großer Freude, mit einem so liebwerten Manne in nähere Verbindung getreten zu sein; an seinen Äußerungen er- kennen wir deuthch, daß er im Fortschreiten ist. Mögen so treue Bemühungen von seiner Nation und andern freundlich anerkannt werden.
Im vorhergehenden Hefte [Band XII, S. 658—661] haben wir ihn schon gegen seinen Landsmann verteidigt, nun sehen wir uns in dem Falle, ihn auch gegen einen Aus- länder in Schutz zu nehmen.
Die englischen Kritiker, wie wir sie aus ihren vielfachen Zeitschriften kennen, sind aller Achtung wert; höchst er- freulich ist ihre Kenntnis auch fremder Literaturen; Ernst und Ausführlichkeit, womit sie zu Werke gehen, erregen unsere Bewunderung, und wir gestehen gern, daß viel von ihnen zu lernen sei. Sodann macht es einen guten Eindruck, daß sie sich selbst und ihr PubHkum respektie- ren, welches freilich, auf Wort und Schrift höchst auf- merksam, schwer zu befriedigen, zu Widerspruch und Gegensatz immer aufgelegt sein mag. Nun kann aber der Vortrag eines Sachwalters vor den Richtern, eines Redners vor landständischer Versamm- lung noch so gründlich und auslangend sein, es tut sich doch ein Widersacher mit gewichtigen Gründen gar bald hervor, die aufmerkenden, erwägenden Zuhörer sind selbst geteilt, und irgendeine bedeutende Sache wird oft mit der mindesten Majorität entschieden. In solchem, obgleich stillem Widerstreite befinden wir uns gelegentlich gegen ausländische und inländische Kri- tiker, denen wir Sachkenntnis keineswegs absprechen, oft
GRAF CARMAGNOLA NOCH EINMAL 1 7
ihre Prämissen zugestehen und dennoch andere Folge- rungen daraus ziehen.
Den Engländer aber besonders entschuldigen wir, wenn er sich hart und ungerecht gegen das Ausland erweist: denn wer Shakespeare unter seinen Vorfahren sieht, darf sich wohl vom Ahnenstolze hinreißen lassen. Vor allen Dingen sei aber nun die Originalstelle hier ein- geschaltet, damit jedermann beurteilen könne, gegen was wir uns auflehnen.
Quarter ly Review^ Nj-. XL VII. Dec. 1820,/. 86.
The author of the Conte di Carmagnola, Alessandro Man- zoni, in his preface, boldly declares war against the Unities. To ourselves, "chartered libertines", as we consider ourselves on the authority of Shakespeares example and Johnsons argument, little confirmation will be gained from this proselyte to our tramontane notions of dramatic liberty; we fear, however, that theltalians will require a more splendid violation of their old established iaws, before they are led to abandon them. Carmagnola wants poetry; the parting scene between the unhappy Count and his family is indeed affecting, but with this praise and that of occasional simple and manly eloquence the drama itself might be dismissed. We cannot, how- ever, refrain from making known to our readers the most noble piece of Italian lyric poetry which the present day has produced, and which occurs as a chorus at the end of the second act of his drama; and we confess our hopes that the author will prefer, in future, gratifying us with splendid ödes, rather than ofifending us by feeble tra- gedy.
Was uns besonders bewog, das Original hier einzurücken, war, daß wir vorerst die Gedankenfolge jenes kritischen Vortrags ungestört dem Leser zur Beurteilung vorlegen wollten, indem wir zugunsten imserer Polemik die Über- setzung zu zerstücken und umzuwenden rätlich finden, ^ 'Der Verfasser des ''Grafen Carmagnola"' erklärt in seiner Vorrede den angenommenen Theatereinheiten kühn den Krieg; wir aber, privilegierte Freidenker, wofür wir uns,
GOETHE XIII a.
i8 GRAF CARMAGNOLA NOCH EINMAL
und zwar auf Shakespeares Beispiel und Johnsons Gründe gestützt, selbst erklären, wir werden durch diesen Neu- bekehrten für unsere nordischen Begrifife von dramatischer Freiheit wenig Bestätigung gewinnen." Hierauf erwidern wir: Ein Engländer, der über zwei- hundert Jahre auf seiner Bühne die grenzenlosesten Frei- heiten gewohnt ist, was erwartet er für Bestätigung von einem auswärtigen Dichter, der in ganz andern Regionen, in ganz anderm Sinne seinen Weg geht? ''Jedoch fürchten wir, daß die Itahener, ehe sie auf ihre alten herkömmlichen Gesetze Verzicht tun, eine bedeu- tendere Übertretung derselben verlangen werden." Keineswegs! wir loben dagegen den Autor, der vor einem strengen und, wie man am heftigen Widerstreite sieht, teilweise unbiegsamen Publikum handelt, wenn er als guter Kopf, Talent, Genie durch sanftes Ausweichen ver- sucht, eine löbliche Freiheit zu erlangen. Hiebei kann der Autor seine eigene Nation nicht einmal zu Rate zie- hen, geschweige eine fremde; ebensowenig darf er fra- gen, was Entfernte, Andersgebildete für Vorteil aus seiner Arbeit gewinnen mögen.
Nun aber wird sich ausweisen, indem wir jenen kritischen Vortrag fernerhin zerlegen und umstellen, daß der, nicht sonderlich gewogne Kritiker zu Ehren unseres Dichters dennoch günstige Zeugnisse abzulegen genötigt ist. "Der Dichter verdient das Lob einer der Gelegenheit angemessenen Beredsamkeit."
Kann man vom Dramatiker mehr fordern und ihm mehr zugeben? Was könnte denn Beredsamkeit sein, wenn sie nicht gelegentlich wäre? Das englische Rednertalent wird deshalb von der Welt bewundert, weil so viel erfahrne, unterrichtete Männer bei jeder eintretenden Gelegenheit gerade das Rechte, Gehörige, Schickliche, im Parteisinn Wirksame auszusprechen verstehen. Dieses Bekenntnis also des Kritikers, nur in Eile hingeworfen, nehmen wir dienlich auf und geben ihm die eigentliche Bedeutung. "Die Scheideszene des unglücklichen Grafen imd seiner Familie ist wahrhaft herzergreifend." Also wahrhaft männliche Redekunst und herzergreifende,
GRAF CARMAGNOLA NOCH EINMAL 19
gefühlvolle Behandlung, beides zu rechter Zeit, am pas- senden Ort, wird zugestanden. Wir verlangen nicht mehr, und der Autor wird es dankbar anerkennen. Wie muß uns nun aber folgendes erfreuen:
''Unterlassen können wir nicht, unsere Leser mit dem edelsten lyrischen Stücke, welches die neuere italienische Dichtkunst hervorgebracht, bekannt zu machen; es folgt als Chor dem zweiten Akte des Dramas." (Eine Über- setzung ist beigefügt.)
Also auch das höchste lyrische Verdienst, zu dem rheto- rischen und elegischen gesellt, wird dem Dichter zuge- standen! Und doch hatte der Kritiker beliebt, seinen Vor- trag mit den harten Worten anzufangen: ''Carmagnola fehlt es an Poesie."
Diese so dürrhin ausgesprochene Ungerechtigkeit wird durch jene Nachsätze keineswegs bewährt und begründet, sie sagen vielmehr gerade das Gegenteil. Wie es uns denn auch scheint, daß sich der Kritiker zuletzt keines- wegs gut aus der Sache ziehe, wenn er sagt: ''Und wir bekennen unsere Hoffnung, daß der Autor uns künftig durch glänzende Oden lieber befriedigen als durch schwache Tragödien verletzen werde."
Ehe wir weitergehen, erlauben wir uns folgende Betrach- tung. Es gibt eine zerstörende Kritik und eine produk- tive. Jene ist sehr leicht; denn man darf sich nur irgend- einen Maßstab, irgendein Musterbild, so borniert sie auch seien, in Gedanken aufstellen, sodann aber kühnlich ver- sichern: vorliegendes Kunstwerk passe nicht dazu, tauge deswegen nichts, die Sache sei abgetan, und man dürfe ohne weiteres seine Forderung als unbefriedigt erklären; und so befreit man sich von aller Dankbarkeit gegen den Künstler.
Die produktive Kritik ist um ein gutes Teil schwerer; sie fragt: Was hat sich der Autor vorgesetzt? ist dieser Vor- satz vernünftig und verständig? und inwiefern ist es ge- lungen, ihn auszuführen? Werden diese Fragen einsichtig und liebevoll beantwortet, so helfen wir dem Verfasser nach, welcher bei seinen ersten Arbeiten gewiß schon
20 GRAF CARMAGNOLA NOCH EINMAL
Vorschritte getan und sich unserer Kritik entgegengeho- ben hat.
Machen wir aufmerksam auf noch einen Punkt, den man nicht genug beobachtet: daß man mehr um des Autors als des Publikums willen urteilen müsse. Tagtäglich sehen wir, daß ein Theaterstück, ein Roman, ohne die mindeste Rücksicht auf Rezensionen, von Lesern und Leserinnen nach individuell eigenster Weise aufgenommen, gelobt, gescholten, ans Herz geschlossen oder vom Herzen aus- geschlossen werde, je nachdem das Kunstwerk mit irgend- einer Persönlichkeit zufällig zusammentreffen mag. Kehren wir jedoch zu unserer Tragödie zurück, und zwar zu der Schlußszene, zum Scheiden des Grafen von seiner Familie. Wir tun dies um so lieber, als wir bei imserm bisherigen Vortrag davon geschwiegen. Der englische Kunstrichter nennt sie wahrhaft herzergreifend; uns gilt sie auch dafür, und ihr Gelingen ist imi desto verdienst- licher, als durch das ganze Stück keine zarte, tränenhafte Rührung vorbereitet ist. Nach des Herrn Manzoni ruhig fortschreitender, ohne Verschränkung, gerade vor sich hinwandelnder Weise vernimmt man im Laufe des Stücks zwar, daß Graf Carmagnola Gemahlin und Tochter habe; sie erscheinen aber nicht selbst, als ganz zuletzt, wo sie das den Grafen befallene Unglück urplötzlich vernehmen. Der Dichter hat sich hier, wie in dem unmittelbar dar- auf folgenden Monolog des Grafen, nicht weniger in der Scheideszene selbst, musterhaft bewiesen, und wir trium- phieren, daß er dem Engländer ein indeed affecting obgt- wonnen hat.
Zwar wissen wir aus eigener Erfahrung, daß man, nach aufgezogenem Vorhang, mit wenigen gesprochenen Zeilen ein großes Publikum gleichsam aus dem Stegreife rühren könne; näher betrachtet jedoch sieht man, daß inmier etwas vorausgegangen sein müsse: irgendein vorbereiten - der Anteil muß schon in der Menge walten, imd wenn man diesen aufzufassen, den Augenblick zu nutzen weiß, so darf man seiner Wirkimg gewiß sein. Ebenso, wenn Herrn Manzoni geglückt ist, durch einen Chor den Geist lyrisch zu erheben und anzufeuern, so
GRAF CARMAGNOLA NOCH EINMAL 21
vermochte er das nur in Gefolg der zwei ersten Akte; gleichermaßen entspringt aus den drei letzten Akten die Rührung der Endszene. Wie nun der Dichter seine Rede- kunst nicht hätte entwickeln können ohne die schöne Ge- legenheit, Doge, Senatoren, Generale, Kommissarien und Soldaten sprechen zu lassen, ebensowenig hätte er uns lyrisch begeistert oder elegisch gerührt ohne die edlen Prämissen, auf die er vertrauen konnte. Eine Ode besteht nicht an und für sich: sie muß aus einem schon bewegten Elemente hervorsteigen. Wodurch wir- ken die Pindarischen so mächtig, als daß ihnen die Herr- lichkeiten großer Städte, ganzer Länder und Geschlechts- folgen als Basis dienen, worauf denn die eminente Per- sönlichkeit eines einzelnen emporgehoben wird. Man gedenke der unwiderstehlichen Gewalt tragischer Chöre der Griechen. Wodurch steigern sie sich aber als auf dem dazwischen, von einem Akt zum andern sich steigernden dramatischen Interesse. Herr Manzoni hat sich als lyrischen Dichter in seinen 'Heiligen Hymnen" zu unserer Freude früher bewiesen. Wo konnten aber diese wachsen und gedeihen als auf dem fruchtbaren Boden der christlich-römisch-katholischen Religion: und doch läßt er aus diesem breiten Felde nur fünf Hymnen aufsteigen. Dann finden wir den mysteriös frommen Gehalt durchaus einfach behandelt: kein Wort, keine Wendung, die nicht jedem Italiener von Jugend auf bekannt wären; und doch sind die Gesänge originell, sind neu und überraschend. Von dem zarten Anklang des Na- mens Maria bis zum ernsten Versuch einer Judenbekeh- rung alles lieblich, kräftig und zierlich. Nach diesen Betrachtungen dürften wir wohl unsern Dichter ersuchen, das Theater und seine eigens gewählte Weise nicht zu verlassen, aber darauf zu sehen, daß der zu wählende Stoff an und für sich rührend sei; denn genau betrachtet liegt das Rührende mehr im Stoff als in der Behandlung.
Nicht als Vorschlag, sondern nur eines schnellern Ver- ständnisses wegen, nennen wir die Räumung von Parga. Zwar möchte dieses Sujet gegenwärtig zu behandeln eini-
2 2 GRAF CARMAGNOLA NOCH EINMAL
germaßen gefährlich sein, unsere Nachkommen werden sichs nicht entgehen lassen. Wenn es aber Herr Manzoni ergreifen dürfte und es nur in seiner ruhigen, klaren Art durchführte, sein überzeugendes Rednertalent, seine Gabe, elegisch zu rühren und lyrisch aufzuregen, in Tätigkeit setzen wollte, so würden von der ersten bis zur letzten Szene Tränen genug fließen; so daß der Engländer selbst, wenn er auch durch die bedenkliche Rolle, die seine Lands- leute dabei spielen, sich einigermaßen verletzt (offended) fühlte, er das Stück doch gewiß keine schwache Tra- gödie nennen würde.
ERKLÄRUNG UND BITTE
[über Kunst und Altertum. Dritten Bandes zweites Heft. 1821.]
SEIT mehreren Jahren bin ich so glücklich, des schönen Vertrauens meiner lieben Landsleute zu genießen; ich erhalte daher öftere Sendungen und Anfragen von wohl- denkenden, talentreichen, strebenden jüngeren und älte- ren Personen. Sowie es nur mögHch war, habe ich dar- auf erwidert; nun aber vermehrt sich dieses Wohlwollen, indes die Kräfte sich vermindern und einzelnen zu ant- worten ganz unmöglich wird. Weil aber diese Sendungen und Fragen meistens von schöner Bedeutung sind, so er- regen sie Gedanken und Empfindungen, die ich wohl mit- zuteilen wünschte. Ich werde daher in meinen Heften dergleichen niederlegen und ersuche meine unbefriedig- ten werten Korrespondenten, sich darin umzusehn.
NICHTS ANDERS ALS
[FRAGMENT]
JE mehr von Jugend auf das Gefühl bei mir wuchs, daß man schweigen solle, wenn man nichts zu sagen hat, und dagegen das Wohlgedachte auch gut und ohne Stot- tern hervorgeben solle, desto mehr bemerkt ich, daß man aus natürlicher Fahrlässigkeit immer noch gewisse Flick- und Schaltwörter behaglich einschiebt, um eine sonst tüchtige und wirksame Rede, man weiß nicht warum, zu erlangen. Indessen mag es wohl aus der mündlichen Rede hergekommen sein, welche, um sich zu fassen, Zeit zu nehmen, allenfalls einer solchen Interjektion gebraucht; finden wir ja doch oft Personen, die sich die allerselt- samsten Töne, Ausatmungen und banale Reden ange- wöhnen, um damit ihren Vortrag zu spicken, zu flicken und zu zerstücken. Auf dem Theater hat man davon sehr glücklichen Gebrauch gemacht, und von solchem unseli- gen Behülf hab ich in "Kunst und Altertum" [Ersten Bandes drittem Heft; Band XII, S. 545—46 dieser Ausgabe] eine Anzahl Beispiele gegeben, welche wohl noch mannigfaltig zu vermehren sein möchten.
Eine Redensart aber, die sich durch die würdigsten Vor- gänger in Ansehen setzet, den gemeinen Menschensinn einschläfert, damit er das Absurdeste ertragen möge, es ist die, wovon dieser Aufsatz den Titel führt. In den Jahren, wo einem alles wie billig Ernst ist, zu lesen, wenn Cicero De miiicitia sagt: [bricht ab]
DIE TOCHTER DER LUFT
[über Kunst und Altertum. Dritten Bandes drittes Heft. 1822.]
De nugis hominum seria veritas Uno volvitur assere.
UND gewiß, wenn irgendein Verlauf menschlicher Torheiten hohen Stils über Theaterbretter hervor- geführt werden sollte, so möchte genanntes Drama wohl den Preis davontragen.
Zwar lassen wir uns oft von den Vorzügen eines Kunst- werks dergestalt hinreißen, daß wir das letzte Vortreff- liche, was uns entgegentritt, für das Allerbeste halten und erklären; doch kann dies niemals zum Schaden gereichen: denn wir betrachten ein solches Erzeugnis liebevoll um desto näher und suchen seine Verdienste zu entwickeln, damit unser Urteil gerechtfertigt werde. Deshalb nehme ich auch keinen Anstand, zu bekennen, daß ich in der ''Tochter der Luft" mehr als jemals Ca/derons gioßiesTalent bewundert, seinen hohen Geist und klaren Verstand ver- ehrt habe. Hiebei darf man denn nicht verkennen, daß der Gegenstand vorzüglicher ist als ein anderer seiner Stücke, indem die Fabel sich ganz rein menschlich er- weist und ihr nicht mehr Dämonisches zugeteilt ist, als nötig war, damit das Außerordentliche, Überschwengliche des Menschlichen sich desto leichter entfalte und bewege. Anfang und Ende nur sind wunderbar, alles übrige läuft seinen natürlichen Weg fort.
Was nun von diesem Stücke zu sagen wäre, gilt von allen unseres Dichters. Eigentliche Naturanschauung verleiht er keineswegs; er ist vielmehr durchaus theatralisch, ja bretterhaft; was wir Illusion heißen, besonders eine solche, die Rührung erregt, davon treffen wir keine Spur: der Plan liegt klar vor dem Verstand, die Szenen folgen not- wendig, mit einer Art von Ballettschritt, welche kunst- gemäß wohltut und auf die Technik unserer neuesten ko- mischen Oper hindeutet; die innern Hauptmotive sind immer dieselben: Widerstreit der Pflichten, Leidenschaf- ten, Bedingnisse, aus dem Gegensatz der Charaktere, aus den jedesmaligen Verhältnissen abgeleitet.
2 6 CALDERON, DIE TOCHTER DER LUFT
Die Haupthandlung geht ihren großen poetischen Gang, die Zwischenszenen, welche menuettartig in zierlichen Figuren sich bewegen, sind rhetorisch, dialektisch, so- phistisch. Alle Elemente der Menschheit werden erschöpft, und so fehlt auch zuletzt der Narr nicht, dessen haus- backener Verstand, wenn irgendeine Täuschung auf An- teil imd Neigung Anspruch machen sollte, sie alsobald, wo nicht gar schon im voraus, zu zerstören droht. Nim gesteht man bei einigem Nachdenken, daß mensch- liche Zustände, Gefühle, Ereignisse in ursprünglicher Na- türlichkeit sich nicht in dieser Art aufs Theater bringen lassen, sie müssen schon verarbeitet, zubereitet, sublimiert sein; und so finden wir sie auch hier: der Dichter steht an der Schwelle der Überkultur, er gibt eine Quintessenz der Menschheit.
Shakespeare reicht uns im Gegenteil die volle, reife Traube vom Stock; wir mögen sie nun beliebig Beere für Beere genießen, sie auspressen, keltern, als Most, als gegornen Wein kosten oder schlürfen, auf jede Weise sind wir er- quickt. Bei Calderon dagegen ist dem Zuschauer, dessen Wahl und Wollen nichts überlassen; wir empfangen ab- gezogenen, höchst rektifizierten Weingeist, mit manchen Spezereien geschärft, mit Süßigkeiten gemildert; wir müs- sen den Trank einnehmen, wie er ist, als schmackhaftes köstliches Reizmittel, oder ihn abweisen. Warum wir aber ''die Tochter der Luft'' so gar hoch stellen dürfen, ist schon angedeutet: sie wird begünstigt durch den vorzüglichen Gegenstand. Denn leider sieht man in mehreren Stücken Calderons den hoch- und freisinnigen Mann genötigt, düsterem Wahn zu frönen und dem Un- verstand eine Kunstvemunft zu verleihen, weshalb wir denn mit dem Dichter selbst in widerwärtigen Zwiespalt geraten, da der Stoff beleidigt, indes die Behandlung ent- zückt; wie dies der Fall mit der ''Andacht zum Kreuze", der "Aurora von Copacabana" gar wohl sein möchte. Bei dieser Gelegenheit bekennen wir öffentlich, was wir schon oft im stillen ausgesprochen: es sei für den größten Lebensvorteil, welchen Shakespeare genoß, zu achten, daß er als Protestant geboren imd erzogen worden. Über-
J
CALDERON, DIE TOCHTER DER LUFT 27
all erscheint er als Mensch, mit Menschlichem vollkom- men vertraut, Wahn und Aberglauben sieht er unter sich und spielt nur damit, außerirdische Wesen nötigt er, sei- nem Unternehmen zu dienen; tragische Gespenster, pos- senhafte Kobolde beruft er zu seinem Zwecke, in welchem sich zuletzt alles reinigt, ohne daß der Dichter jemals die Verlegenheit fühlte, das Absurde vergöttern zu müssen, der allertraurigste Fall, in welchen der seiner Vernunft sich bewußte Mensch geraten kann. Wir kehren zur "Tochter der Luft" zurück und fügen noch hinzu: Wenn wir uns nun in einen so abgelegenen Zu- stand, ohne das Lokale zu kennen, ohne die Sprache zu verstehen, unmittelbar versetzen, in eine fremde Literatur ohne vorläufige historische Untersuchungen bequem hin- einblicken, uns den Geschmack einer gewissen Zeit, Sinn und Geist eines Volks an einem Beispiel vergegenwärtigen können — wem sind wir dafür Dank schuldig? Doch wohl dem Übersetzer, der lebenslänglich sein Talent, fleißig bemüht, für uns verwendet hat. Diesen herzlichen Dank wollen wir Herrn Dr. Gries diesmal schuldig darbringen: er verleiht uns eine Gabe, deren Wert überschwenglich ist, eine Gabe, bei der man sich aller Vergleichung gern enthält, weil sie uns durch Klarheit alsobald anzieht, durch Anmut gewinnt und durch vollkommene Übereinstimmung aller Teile uns überzeugt, daß es nicht anders hätte sein können noch sollen.
Dergleichen Vorzüge mögen erst vom Alter vollkommen geschätzt werden, wo man mit Bequemlichkeit ein treff- liches Dargebotene genießen will, dahingegen die Jugend, mitstrebend, mit- und fortarbeitend, nicht immer ein Ver- dienst anerkennt, was sie selbst zu erreichen hofft. Heil also dem Übersetzer, der seine Kräfte auf einen Punkt konzentrierte, in einer einzigen Richtung sich be- wegte, damit wir tausendfältig genießen können.
OLFRIED UND LISENA NOCH EINMAL
[über Kunst und Altertum. Dritten Bandes drittes Heft. 1822.]
DA wir bei abermaliger Betrachtung genannten Ge- dichtes die Neigung gegen dasselbe und gegen den Autor zu verändern keinen Anlaß gefunden, viel- mehr die früher gehegte gute Gesinnung sich unange- fochten erhalten hat, so möchten wir dem Dichter gerne etwas zuliebe tun, etwas aussprechen, das ihn für alle Zukunft fördern könnte.
Denn was an ihm allenfalls auszusetzen sei, darüber wer- den ihn unsere landsmännischen Kritiker gar umständlich belehren; wir aber wollen ihn mit einem kurzen Worte be- raten, welches zu befolgen er gewiß heilsam finden wird. Wir wünschen nämlich, daß er sichs für die nächste Zeit, vielleicht für alle Zeiten, zum Gesetz mache, nur kurze, einfache Erzählungen zu unternehmen; er wähle sich aus der Geschichte, aus Überlieferungen, aus Erfahrung irgend- ein prägnantes Motiv, welches, entwickelt, ästhetisch- moralische Zufriedenheit erwecken könne. Er behandle solches ausführlich und umständlich; die Eigentümlichkeit desselben werde aus sich selbst geschmückt und erwachse zu fröhlichen Teilen; je kürzer er sich faßt, desto will- kommener wird er sein und gewiß am besten gedeihen. Denn ergreift er den rechten Gegenstand, so ist bei einer anmutigen Behandlung, wie sie dem schönen Talent zu Gebote steht, seine Arbeit unverwüstlich; vergreift er sich auch einmal, so ist für seine fruchtbare Dichtader nicht viel verloren.
Gern erinnern wir uns hiebei Wielands kleiner Erzählun- gen, von welchen gar manche als wohlgeschlififene Edel- steine in der Krone deutscher Literatur noch lange Zeit glänzen werden, wenn viel mehr Aufmerksamkeit und Forschung verlangt wird, um die Verdienste des aller- liebsten '^Oberon" anzuerkennen.
DIE HEILIGEN DREI KÖNIGE NOCH EINMAL
[über Kunst und Altertum. Dritten Bandes drittes Heft. 1822.]
I
N des zweiten Bandes zweitem Stück von ''Kunst und Altertum" erwähnten wir eines lateinischen Manuskripts, welches die Legende der heiligen drei Könige sehr aus- fuhrlich darstellt. Da uns nun diese frommen Erstgebor- nen aus den Heiden neuerlich durch die trefflichen Ar- beiten der altern niederländischen Schule immer lieber und werter geworden, so hegten wir den Wunsch, Näheres von dem Büchlein und dem Verfasser zu erfahren und vielleicht eine Übersetzung desselben in einem jener Zeit gemäßen Stil bearbeitet zu sehen. Wie denn nun immer eins aufs andere führt, so tat sich unter den Heidelberger Manuskripten eineÜbersetzunghervor, welche Yitrr Schwab neben dem Original benutzend uns gegenwärtig ein an- genehmes Geschenk darreicht, und zwar ist er bei seiner Arbeit folgendermaßen zu Werke gegangen. Um uns gleich zu Anfang mit dem fablenden Autor aus- zusöhnen, hat er die Legende der drei Könige in zwölf Romanzen, einer Dichtart, deren Ton ihm so wohl gelingt, poetisch ausgeführt und sie als einleitenden Auszug seiner Übersetzimg vorausgeschickt, gauz im Sinne des Büchleins, das er behandeln wollte, welches darauf ganz schicklich folgt in einem Tone, dem Altertum und dem Gegenstande gar wohl angemessen. Es ist der Stil, obgleich einige Jahr- hunderte rückwärts gebildet, doch ohne Zwang und Un- natur; das Vorgetragene liest sich gut und leicht, und das Büchlein ist sowohl dem Inhalt als der Behandlung nach allgemein zu empfehlen.
Wenn nun freilich der Verlauf der Dinge umständlich-pro- saisch und zugleich unwahrscheinlich-märchenhaft durch- geführt ist, wie es Legendenschreibem, zyklischen Dichtem und andern Spätlingen eigen sein mag, so kommt doch gar manches vor, was an bekannte Geschichte sich an- schließt, nicht weniger vieles auf östliche Länder und Reiche bezüglich. Vom Klima wird gehandelt, von Lan-
30 DIE HEILIGEN DREI KÖNIGE NOCH EINMAL
desart, Menschen, Tieren und Gewächsen; wir stoßen auf manche Wunderlichkeiten, solchen ähnlich, die man uns früher schon vorgefabelt; wir finden einen angenehmen Beitrag zu dem, was man in jener Zeit gewußt und ge- wähnt, erfahren und geträumt, und so erinnert das Büch- lein hie und da an Herodot, durchaus aber an Mandruille; wir gewahren denselben Trieb eines Reisenden, der von dem Punkte der Welt aus, wo er hingelangt, weiter vor- wärts mid seitwärts zu schauen emsig sich gedrungen fühlt.
Sodann aber ist die Rechenschaft, welche unser Verfasser von den heiligen Orten gibt, der Art, daß er entweder selbst muß dort gewesen sein oder die sehr zahlreichen Pilger fleißig ausgeforscht haben. Dieses alles zu sondern, die Kongruenz mit schon bekanntem Irrtum, mit aner- kannter Wahrheit zu zeigen, würde eine leichte Arbeit sein für Männer, die in diesem Fach zu Hause sind, und gewiß nicht fruchtlos für Welt- und Zeitkenntnis. Als Autor dieses Büchleins entdeckte sich bei näherer \}niQrsuc\\\mg Joha?mes von Hildesheim^ Professor zu Avig- non und Paris, nachher 1358 Prior in Hessen-Kassel, ein geübter Schriftsteller in Prosa und Versen, ausgezeich- neter Volksredner, Vermittler zwischen Königen und Für- sten. Im Jahr 1366 reiste er nach Rom; als er von dorther zurückkam, wurde er Prior in seinem Stammkloster zu Marienau, vermittelte dann einen Frieden zwischen dem Bischof von Hildesheim und den Herzogen von Braun - schweig, und starb 1375 in genanntem Kloster, wo er neben dem Stifter, einem Grafen von Gleichen, begraben liegt, wie seine in Kaspar Münsters ^'Saxonia" mitgeteilte Grabschrift beurkundet.
Höchst merkwürdig ist jedoch, daß er gerade im Jahre 1366, wo Mandeville, von seinen Reisen zurückkommend, in Rom einkehrte, sich auch daselbst befand, wodurch die Übereinstimmung mit jenem bedeutenden Reisenden nur desto erklärlicher wird.
VON KNEBELS ÜBERSETZUNG DES LUCREZ
[über Kunst und Altertum. Dritten Bandes drittes Heft. 1822.]
ENDLICH tritt die vieljährige Arbeit eines geprüften Freundes an den Tag, der ich um so mehr einen guten Empfang wünsche, als ich seit geraumer Zeit dieser imverdroßnen Bemühung gar manche Hülfe und Fordernis zu danken habe. Die Schwierigkeiten, welche ein jeder bei dem Studium des Lucrez empfindet, waren auch mir hinderlich, und so gereichten die Studien eines Freundes, sich mit einem so wichtigen Rest des Altertums zu ver- ständigen, eigenem Verständnis zu großem Vorteil. Denn es wird hiebei nichts weniger verlangt, als daß man sich siebzig bis achtzig Jahre vor unserer Ära in den Mittel- punkt der Welt, das heißt nach Rom versetze, sich ver- gegenwärtige, wie es daselbst in bürgerlichen, kriegrischen, religiösen und ästhetischen Zuständen ausgesehen. Den echten Dichter wird niemand kennen, als wer dessen Zeit kennt.
Man darf wohl sagen, daß Lucrez in die Epoche kam imd sie selbst mit bildete, wo die römische Dichtkunst den hohen Stil erreicht hatte. Die alte, tüchtige, barsche Ro- heit war gemildert, weitere Weltumsicht, praktisch tieferer Blick in bedeutende Charaktere, die man um und neben sich handeln sah, hatten die römische Bildung auf den bewundernswürdigen Punkt gebracht, wo Kraft und Ernst sich mit Anmut, wo starke, gewaltige Äußerungen sich mit Gefälhgkeit vermählen konnten. Daraus entwickelte sich im Fortgang das Zeitalter Augusts, wo die feinere Sitte den großen Abstand zwischen Herrscher und Beherrsch- ten auszugleichen suchte imd das für den Römer erreich- bare Gute und Schöne in Vollendung darstellte. In der Folgezeit war an eine Vermittelung nicht mehr zu denken: Tyrannei trieb den Redner von dem Markt in die Schule, den Poeten in sich selbst zurück; daher ich denn gar gern, diesem Verlauf in Gedanken folgend, wenn ich mit Lucrez angefangen, mit Persius endige, der, in sibyUinische Sprüche
32 KNEBELS ÜBERSETZUNG DES LUCREZ
den bittersten Unmut verhüllend, seine Verzweiflung in düstern Hexametern ausspricht.
Wie viel freier bewegt sich noch Lucrez. Zwar auch er ist bedrängt von den Stürmen der Zeit, die ihm eine be- hagliche Ruhe verkümmern, er entfernt sich vom Welt- schauplatz, beklagt des wertesten Freundes Abwesenheit und tröstet sich durch Mitteilung des höchsten Bestrebens. Woher aber kommt eigentlich für ihn das Bedrängende? Seit Erbauung Roms zog der Staatsmann, der Kriegsheld vom Aberglauben nach Bedürfnis die größten Vorteile; aber wenn man von günstigen Göttern durch Vögelflug und Eingeweidegestalt treuen Rat und Warnung zu er- halten glaubte, wenn der Himmel an dem Gläubigen teilzmiehmen schien, so waren diese dagegen doch nicht vor den Schrecken der Hölle gesichert; und weil das Fürchterliche immer mehr aufregt, als das Milde zu be- schwichtigen vermag, so verdüsterte der Flammenqualm des Orkus den olympischen Äther, und die stygische Gor- gone löschte die sämtlichen reinen, ruhigen Götterbilder aus, die man ihren schönen Wohnsitzen entrissen und in römische Knechtschaft geschleppt hatte. Nun waren schwache Gemüter mehr und mehr bemüht, drohende Wahrzeichen abzulenken und von Furcht sich demütig zu retten. Angst und Bangigkeit steigerte sich jedoch, als ein Leben nach dem Tode, bei einem un- seligen Leben auf Erden, immer wünschenswerter er- schien; wer aber gab sodann Bürgschaft, daß es nicht ebenso schlimm, vielleicht gar schlimmer als am Tage des Tags unten aussehen werde? So zwischen Furcht und Hofihxmg schwebte die Menge, der bald hernach das Christentum höchst willkommen und das tausendjährige Reich als der wünschenswerteste Zustand ersehnt werden sollte.
Starke Geister hingegen, wie Lucrez, die wohl zu ver- zichten, aber sich nicht zu ergeben genaturt waren, suchten, indem sie die Hofi&iung ablehnten, auch die Furcht los zu werden; doch hiebei war, wenn man auch mit sich selbst | übereinzukommen gewußt, doch von außen große Anfecb tung zu erleiden.
KNEBELS ÜBERSETZUNG DES LUCREZ ^3
Einer, der immer wieder hören muß, was er längst be- seitigt hat, fühlt ein Mißbehagen, das sich von Ungeduld zur Wut steigern kann; daher die Heftigkeit, mit welcher Lucrez auf diejenigen eifernd losfährt, die im Tode nicht vergehen wollen. Dieses gewaltige Schelten hab ich je- doch immer beinahe komisch empfunden und mich dabei an jenen Feldherrn erinnert, der im prägnantesten Augen- blick der Schlacht, da seine Truppen dem unvermeidlichen Tod entgegenzugehen stockten, verdrießlich ausrief: ''Ihr Hunde, wollt ihr denn ewig leben!" So nah grenzt das Ungeheure ans Lächerliche.
So viel sei diesmal über ein Werk gesagt, das, allgemeine Aufmerksamkeit verdienend, den Anteil der jetzigen Zeit besonders erregen muß.
Man soll in vielen Stücken nicht denken wie Lucrez, ja man kann es nicht einmal, und wenn man wollte; aber man sollte erfahren, wie man sechs bis acht Dezennien vor unserer Ära gedacht hat: als Prologus der christlichen Kirchen - geschichte ist dieses Dokument höchst merkwürdig. Auf einen so wichtigen Gegenstand nun sei mir erlaubt wieder zurückzukommen, indem ich Lucrez in mehrfacher Eigenschaft darzustellen wünschte: als Menschen und Römer, als Naturphilosophen und Dichter. Diesen alten Vorsatz auszuführen, erleichtert mir zu rechter Zeit die wohlgelungene Übersetzung, sie macht es allein möglich. Denn wir sehen sie durchaus würdig mit edler Freiheit vorschreiten, sich selbst klar unser Verständnis aufschlie- ßen, auch wenn von den abstrusesten Problemen gehandelt wird. Graziös imd anmutig lockt sie uns in die tiefsten Geheimnisse hinein, kommentiert ohne Umschreibung und belebt ein uraltes bedenkliches Original; wie dies alles in der Folge umständlich nachzuweisen sein wird.
GOETHE XIII 3.
GENEIGTE TEILNAHME AN DEN WANDERJAHREN
[über Kunst und Altertum. Dritten Bandes drittes Heft. 1822.]
DA nun einmal für mich die Zeit freier Geständnisse herangekommen, so sei auch folgendes gegenwärtig ausgesprochen, in späteren Jahren übergab ich lieber etwas dem Druck als in den mittleren, denn in diesen war die Nation irre gemacht durch Menschen, mit denen ich nicht rechten will. Sie stellten sich der Masse gleich, um sie zu be- herrschen; sie begünstigten das Gemeine als ihnen selbst gemäß, und alles Höhere ward als anmaßend verrufen. Man warnte vor tyrannischem Beginnen anderer im Lite- rarkreise, indessen man selbst eine ausschließende Ty- rannei unter dem Scheine von Liberalität auszuüben suchte. Es bedarf keiner langen Zeit mehr, so wird diese Epoche von edlen Kennern frei geschildert werden. Nun darf ich mich aber zuletzt gar mannigfach besonders auch des Wohlwollens gegen die "Wanderjahi'e" dank- barlichst erfreuen, welches mir bis jetzt dreifältig zu Ge- sicht gekommen. Ein tiefsinnender und fühlender Mann, Varnhage7i von Elise, der, meinen Lebensgang schon längst aufmerksam beobachtend, mich über mich selbst seit Jahren belehrte, hat im Gesellschafter die Form ge- wählt, mehrere Meinungen im Briefwechsel gegeneinan- der arbeiten zu lassen, in solchem Falle sehr glücklich, weil man den Bezug eines Werks zu verschiedenen Men- schen imd Sinnesweisen hiedurch am besten zur Sprache bringen und sein eignes Empfinden mannigfach und an- mutig an